back to colour

 

In der neuen Werkgruppe von Renke Maspfuhl übernimmt die Farbe wieder die dominierende Rolle. Seine minimalistischen Farbtafeln zeigen in ihrem kompositorischen Aufbau und farblichen Wechselspiel eine Mischung aus gestalterischer Kraft und ästhetischem Feingefühl. Maspfuhls Malerei orientiert sich zumeist an einer strikt vertikalen und horizontalen Bildaufteilung. Auch die Diagonale dient dem Künstler als lineares Element und als optische Flankierung seiner scheinbar gegenstandslosen, wenngleich auch perspektivische Räumlichkeit suggerierenden Malerei. Die Farbigkeit geht in seinen Arbeiten mit der jeweiligen Linearkomposition eine spannende, sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärkende Verbindung ein. Hinter der vordergründigen Flächigkeit verbirgt sich eine Mehrschichtigkeit, die den zweiten und dritten Blick herausfordert. Die Dechiffrierung seiner Bilder, denen er keine Titel gibt, überlässt der Künstler bewusst dem Betrachter/der Betrachterin. Einladende Lichtschneisen, optische Dreidimensionalität oder überraschend gegenläufige Ab- und Aufstufungen provozieren die Wahrnehmung für eine Formenwelt, deren Reiz bei eingehender Betrachtung stetig zunimmt und das aktive Sehen des Publikums herausfordert.

 

Franz X. Scheuerer / Hrsg.: www.artbooklets.de

 

 

 

Die spielerische Zähmung des Monströsen: Dr. Thomas J. Piesbergen zur Ausstellung "Permanent Beta" von Renke Maspfuhl, 2019

 

 

Robert Louis Stevenson, der Autor der Schatzinsel und des seltsamen Falls von Dr. Jekyll und Mr. Hyde schrieb einmal „Das Leben ist monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant, ein Kunstwerk, verglichen damit, ist harmlos, begrenzt, beherrscht, vernünftig, fließend und gezähmt.“
Damit hat Stevenson, obwohl er nur einen formalen Mechanismus des belletristischen Schreibens illustrieren wollte, nämlich den der narrativen Reduktion, zugleich auf die zentrale Aufgabe aller Kunst verwiesen.

Diese Aufgabe, die die Kunst seit Anbeginn der menschlichen Kultur erfüllt, und die mit großer Wahrscheinlichkeit und nach dem heutigen Stand von Kultur- und Neurowissenschaften, den Ursprung menschlicher Kultur selbst darstellt, besteht darin, dem Menschen zu helfen, Lebenskrisen zu meistern, in dem sie das unlogische, sprunghafte und monströse Leben zähmt.
Die Kunst diente dazu, das Unbegrenzte und Lebensbedrohliche zu interpretieren, zu verdichten und in mythischen Narrationen zu bündeln, die dem Menschen die Welt begreiflich machen sollten und ihm Handlungsdirektiven gaben. Sie war also ein Mittel, um eine lokal gültige Wirklichkeit zu konstruieren, die dem Menschen Halt gab.

 

Über Jahrtausende geschah das mittels symbolischer Bildinhalte, die die mythische Ordnung der Welt repräsentierten, später durch den illustrativen Nachvollzug mythischer Abläufe. Seit der Renaissance emanzipierte sich die Kunst schließlich von dem religiösen Kontext und transportierte nun auch das profane, bürgerliche Wertesystem, das in unserem Kulturkreis zum Maßstab menschlichen Handelns avancierte.

Mit dem Zerfall der bürgerlichen Welt jedoch, dem Umsturz politischer Systeme, mit den großen Revolutionen der Psychologie und Physik zu Beginn des 20. Jhd., die die Vordergründigkeit aller Narrationen erkennen ließen, befreite sich mit der Moderne auch die Kunst von ihrer Aufgabe als rein illustrierender Repräsentant von Narrativen und Narrationen.

 

 

 

Zunächst emanzipierten sich mit dem Fauvismus die Farbe, dann mit dem Kubismus auch die Form. Durch die dadurch eingeleitete fortschreitende Abstraktion entledigte sich die moderne Kunst weitgehend aller narrativer Inhalte und Konventionen und wandte sich, wie auch die moderne Literatur eines James Joyce oder Marcel Proust, dem rein subjektiven Erleben zu, vor allem dem von unterbewussten Vorgängen und emotionalen Zuständen, wie exemplarisch im Dada, dem Surrealismus oder Neo-Expressionismus.

Doch weder die Kunstgeschichte noch die Entwicklung des kulturellen Bewusstseins haben bei der Freilegung der Emotionalität und des Unterbewussten Halt gemacht. Wir haben inzwischen die Meta-Ebenen des Strukturalismus, des Konstruktivismus, des Poststrukturalismus und der Postmoderne durchschritten und die theoretische Physik, die Neurowissenschaften sowie die interkulturellen Verwerfungen einer globalisierten Welt zerlegen und revidieren unser Weltbild nahezu ununterbrochen.

 

Die Wirklichkeit ist so monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant wie nie zuvor. Und die Parallelität alternativer Wirklichkeiten wird uns durch die zunehmende Bedeutung digitaler Welten auf drastische Art und Weise vor Augen geführt.

Auf welchem Weg kann also ein Künstler agieren, um der ursprünglichen Aufgabe der Kunst gerecht zu werden, nämlich auf Handlungsoptionen zu verweisen, die dem Menschen helfen, die stetig sich wandelnde Welt und darin sich selbst zu begreifen?
Da es keine belastbaren Narrationen mehr gibt, keine beständigen Strukturen, auf die man symbolisch verweisen könnte, bleibt nur der wirklichkeitsgenerierende Prozess selbst, auf den es zu verweisen gilt. 

 

Bereits der Titel der aktuellen Ausstellung von Renke Maspfuhl macht das deutlich: „Permanent Beta“. Als eine Betaversion bezeichnet man ein Programm, das bereits alle Elemente des späteren Produkts vereint, sich aber noch in einer Testphase befindet und durch Updates ununterbrochen verändert wird. So spielt sich also das künstlerische Momentum in einer stetig voranschreitenden Suche nach der Form ab, doch die erzielte Form selbst kann auch nur als Zwischenschritt in einem anhaltenden Prozess begriffen werden.

Wie sieht nun aber dieser Prozess der Bildfindung und -konstruktion bei Renke Maspfuhl aus?
Maspfuhl selbst zieht dazu gerne das Attribut „aleatorisch“ heran, also dem Zufall unterworfen. Wenn der Zufall im Spiel ist, ist man mit Begriffen wie Unordnung oder Chaos meist schnell bei der Hand. Doch so wenig unsere nicht-lineare Welt chaotisch ist, genauso wenig sind es die Arbeiten von Renke Maspfuhl.

 

Der Physiker Herman Haken beschäftigte sich mit eben dieser Frage, wie es möglich sei, dass es in einer Welt, die vom Zufall regiert werde und sich eigentlich in einem Zustand maximaler Entropie befinden müsse, es dennoch immer wiederkehrende, sich selbst hervorbringende Muster gäbe.  Während er maßgeblich an der Entwicklung des Lasers arbeitete, legte er, um sich diese Frage zu beantworten, den Grundstein der neuen Teilwissenschaft der Synergetik, der Lehre vom Zusammenwirken.

Stark vereinfacht besagt die Synergetik, dass sich in ungeordneten Systemen über kurz oder lang energie-ökonomisch vorteilhafte Bewegungsmuster bilden, ausgehend von einem oder mehreren Elementen, deren Verhalten sich gegenüber den anderen durchsetzt und sich als sog. „Ordner“ etabliert, der die anderen Elemente „versklavt“.
Auf diesem Weg der Selbstorganisation entstehen aus der Unordnung temporär stabile Muster und Strukturen. Heutzutage ist dieses Prinzip u.a. belegt bei der Bildung von Kristallen, der Bewegung von Wolken, in volkswirtschaftlichen Abläufen, ja sogar bei neuronalen Vorgängen. Die Synergetik beschreibt also einen grundlegenden Mechanismus des Zustandekommens der Strukturen und Bewegungen unserer Lebenswirklichkeit.

 

Und eben diesen Mechanismus können wir auch in der Arbeitsweise und den Bildern Renke Maspfuhls wieder entdecken.
Am Anfang steht immer das spontane Tun, oft der Umgang mit zufällig gefundenen Materialien oder den Resten von älteren Arbeiten aus dem eigenen Atelier. Der Künstler begegnet der Welt und entnimmt ihr Dinge, die sein unmittelbares Umfeld zur Verfügung stellt, wobei dieses Umfeld nicht nur als ein Gegenüber begriffen wird, sondern auch als etwas, das bereits durch unser eigenes Tun geprägt worden ist. Indem Maspfuhl eigene Arbeiten in seinen Bildern „recycled“, verweist er auf die Einbettung des Subjekts in seine Umgebung, auf die Geschichte des Subjekts, die Teil der objektiven Wirklichkeit geworden ist.

Diese subjektiven Elemente, die in Form der Collage auf das Papier oder die Leinwand gebracht werden, werden ergänzt durch Fundstücke, die mal als Stempel genutzt werden, mal als Schablonen, mal selbst der Arbeit zugefügt werden. Es folgen intuitive Übermalungen, mal flächig-malerisch, mal graphisch oder gestisch. Schicht legt sich auf Schicht, wobei die unteren Schichten immer wieder zutage treten können, in dem sie freigekratzt werden, durch lasierte Farbflächen hindurch scheinen oder als unterliegende Strukturen zu erahnen sind. Durch dieses Verfahren wird der Prozess mit seiner zeitlichen Dimension erfahrbar. Das Bild transportiert seine eigene Entstehungsgeschichte als Bildinhalt.

 


Die Haltung des Künstlers in diesem Prozess ist ergebnisoffen. Die Arbeiten werden begonnen ohne im Vorfeld formulierte Gestaltungsabsicht. In diesem Sinne wird der Schaffensprozess zu einem aleatorischen Spiel, in dem sich früher oder später eine synergetische Dynamik entwickelt. Einzelne Elemente werden zu den sog. Ordnern, bilden Gravitationszentren, die das Vorgefundene zueinander in Beziehung setzen und dem Folgenden eine Entwicklung vorzeichnen.

Der Künstler lässt sich einerseits durch die synergetische Dynamik der Elemente leiten, andererseits interveniert er mit gezielten Setzungen.
So können wir ohne vordergründige Bild-Symbolik und ohne illustrierte Narration dennoch ein Narrativ aus den Arbeiten heraus lesen, das sich in dem transparent gemachten Werkprozess zeigt: ein Narrativ, das eine dem Stand unserer Kultur angemessene Handlungsstrategie aufzeigt, ohne Berufung auf überkommene mythologische und religiöse Inhalte oder moralische Strukturen, nämlich dem monströsen, unlogischen, unbegrenzten, sprunghaften und penetranten Leben entgegenzutreten, in dem wir uns auf seine synergetische Dynamik einlassen und es in einem aleatorischen Spiel zu zähmen versuchen.

 

Und es gelingt Renke Maspfuhl diesen Prozess nicht nur stellvertretend zu veranschaulichen, sondern es gelingt ihm, uns in ihn einzubinden.
Zum einen arbeitet Maspfuhl in seinen jüngeren Arbeiten zunehmend mit Leerflächen in den verschiedensten Schattierungen von Weiß, die nicht nur den Blick in die durchschimmernde Historie der Bilder anregen, sondern den Betrachter auch herausfordern - analog der Begegnung mit dem sprichwörtlichen weißen Blatt Papier - die Bilder weiter zu denken.

Zum anderen verzichtet Maspfuhl ganz bewusst auf Werktitel und dadurch auf bevormundende Hinweise auf eine mögliche Interpretation. So setzt sich das Spiel, dass den Werkprozess gekennzeichnet hat, im Betrachter der Bilder fort. Wir sind es, die Bedeutung und Beziehung in die Bilder und ihre transparente Entstehungsgeschichte hineinlesen.

Schließlich leben wir in einer Welt, in der es so wichtig wie nie zuvor geworden ist, die individuelle Deutungshoheit zu behaupten und sich selbst, durch Teilhabe und freies, spielerisches Handeln, in die Lage zu versetzen, eigenständige und selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen, von denen wir wissen, dass sie eine Setzung sein können im synergetischen Ganzen unserer Welt.

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Mai 2019

 

 

Magische Zeichen sind in die Leinwand eingeschrieben. Buchstaben und Wortfragmente steigen aus dem diffusen Bildgrund auf, Zahlenreihen oder einzelne Ziffern bilden in präziser Schablonentechnik unergründliche numerische Werte, religiöse Symbole und geometrische Formen sind in das Impasto der Oberfläche gerakelt und geritzt, während archaische Figuren aus der Vorzeit würdevoll tanzen und skripturale Chiffren im Bildfeld herumwirbeln.

 

Die Bilder von Renke Maspfuhl versammeln den gesamten Zeichenvorrat der menschlichen Zivilisationsgeschichte. Der Zeichensprache des Menschen gilt das Hauptinteresse des Künstlers. So faszinierte ihn immer schon die prähistorische Höhlenmalerei und deren zeitlose Aussagekraft. Dass wir heute diese Bildergeschichten noch verstehen können, liegt an der Fähigkeit des Menschen, die äußere Erfahrungswelt in ein komplexes Kodierungssystem aus Piktogrammen und Symbolen zu übersetzen, mit dem Wissen über Generationen tradiert worden ist. So hat sich über Jahrtausende  neben den gesprochenen und geschriebenen Sprachen ein kollektives Zeichenrepertoire entwickelt, das gerade die ewigen menschlichen und mythologischen Wahrheiten auszudrücken vermag.

 

Hier setzt Renke Maspfuhl künstlerisch an, dessen Interesse an den Konstanten des menschlichen Geistes wohl auch der Tatsache geschuldet ist, dass sein Vater von Beruf Psychiater und Psychotherapeut war. Die Gemälde entstehen in einem aufwendigen Arbeitsprozess. Malschicht um Malschicht bringt der Künstler die Farbe auf die Leinwand, um eine besonders intensive und nuancenreiche chromatische Wirkung zu erzielen. Die schnell auftrocknende Acrylfarbe ermöglicht viele Farblagen, wobei Lasuren selten sind. Meist entstehen die Schichten durch einen trockenen Farbauftrag, der nicht überall deckend ist und manchmal nachträglich berieben wird. Häufig verwendet der Künstler eine Quarzsandpaste, mit der er reliefartige und schrundige Oberflächen schafft, die noch in feuchtem Zustand bearbeitet werden, indem er Symbole oder Striche einritzt und die Grate und Vertiefungen farblich variiert. Die Bildentstehung ähnelt bisweilen einer archäologischen Grabung. Der Künstler begibt sich auf Spurensuche und ringt Schritt für Schritt den Material- und Farbschichten Figuren und Zeichen ab, die aber nicht immer ganz freigelegt werden. Manchmal bleiben die Formen fragmentarisch und unbestimmt in einem Schwebezustand der bloßen Andeutung. Farbe und Form sind wohlüberlegt auf die Leinwand gesetzt. Die im Unterbewussten verborgenen Zeichen werden langsam ans Licht geholt und zu einem ausgewogenen Gefüge geordnet. Gerade an den kalligraphischen Strichwirbeln und der borstigen Beschaffenheit der Bildoberfläche ist aber auch ablesbar, dass manchmal der gelenkte Zufall den Pinsel führt und sich der Künstler der écriture automatique des Surrealismus und des Informel anvertraut.

 

Im Laufe der Werkgenese hat Renke Maspfuhl eine weitere Arbeitsweise zur Bildfindung entwickelt, die er parallel praktiziert und die zu einem etwas anderen Ergebnis führt : Neben den schweren Materialbildern entstehen immer wieder leichte und durchlichtete Kompositionen, bei denen er auf den Quarzsand verzichtet und die Palette aufhellt. Mit rein malerischen und grafischen Mitteln gelingen dem Künstler Arbeiten von spielerischer Ungezwungenheit, die z.T. an die großen Tableaus von Cy Twombly erinnern, auf denen seltsame Kürzel wie Graffiti auf einer Häuserwand erscheinen. Aber diese Verwandtschaft  hat Renke Maspfuhl erst erkannt, als er seine eigene Formensprache längst ausgebildet hatte. Ein wichtiges Vorbild ist dagegen Antoni Tàpies, der große spanische Maler, der, angeregt von Klee und Dubuffet, seit den 50er Jahren mit seinen aus Sand und Farbe modulierten Materialbildern kosmische Meditationen schuf, die in ihrer tellurischen Tektonik  existenzielle Fragen nach dem Sinn des Lebens aufwerfen.

 

Die Bilder von Renke Maspfuhl stehen deutlich in diesem Kontext. Weil sie den Menschen ins Zentrum ihrer Betrachtung stellen, nicht die alltäglichen Dinge, sondern die Sedimente seiner Kultur, die Hinterlassenschaften seiner Existenz, haben sie eine meditative und transzendente Seite. Der Künstler versucht in seinen Werken, seine eigene Spiritualität (...) in eine Zeichensprache zu übertragen, die die Harmonie des Ganzen anstrebt und deshalb durch ihre Verschlüsselung auch das Unbestimmte zulässt und keine eindeutigen Antworten zu geben sich anmaßt. Die Bilder von Renke Maspfuhl geben dem Betrachter die Möglichkeit, die Material- und Farbschichtungen nach Botschaften abzusuchen, um zu eigenen Antworten zu gelangen. Darin sind die Arbeiten von Renke Maspfuhl zutiefst humanistisch.

 

 

Dr. Björn Egging* (Kunsthistoriker, heute Kurator am Kunstmuseum Wolfsburg)

 

*Rede anlässlich der Ausstellung ‚Ohne Vision ist der Mensch wild und wüst‘(König Salomon), Renke Maspfuhl / Beate Rosenfeld, Malerei, Hamburg 2002